Wer Tabus meidet, bleibt vor dem Tor stehen

Tabus im Unternehmen – Wenn Schweigen lauter ist als Worte

In vielen Organisationen gibt es Themen, über die niemand spricht – als wären sie hinter verschlossenen Türen versteckt. Doch genau diese Tabus prägen den Alltag oft stärker als jede offizielle Richtlinie.

Niklas Luhmanns Systemtheorie bringt es auf den Punkt: Unternehmen sind soziale Systeme, die durch Erwartungen funktionieren – explizit oder unausgesprochen. Man könnte sagen: Kultur ist die Bühne, auf der gespielt wird – und Tabus wirken aus dem Schatten dahinter. Klingt kompliziert? Ist es nur auf den ersten Blick.

Wie Tabus wirken: Die Kultur als Bühne

Tabus sind Teil der Unternehmenskultur. Und diese Kultur lässt sich gut als eine Bühne verstehen. Der Organisationsdenker Gerhard Wohland hat das einmal so formuliert:

„Kultur hat zwei Seiten – eine sichtbare Vorderbühne und eine unsichtbare Hinterbühne.“

Die Vorderbühne – das Sichtbare

Hier findet alles statt, was offiziell gilt und bewusst gesteuert wird: Prozesse, Regeln, Werteplakate, Führungsroutinen. Es ist die Welt der Meetings, Strategiepapiere und Zielvereinbarungen – alles, was im Scheinwerferlicht geschieht.

Die Hinterbühne – das Unsichtbare

Hinter dem Vorhang hingegen wirken Emotionen, Ängste, Loyalitäten, Machtspiele – und eben: Tabus. Diese Ebene ist nicht geregelt, sondern gewohnt. Sie zeigt sich in unausgesprochenen Erwartungen, informellen Spielregeln und der kollektiven Frage: Was darf hier eigentlich nicht gesagt werden?

Wohland betont deshalb:

„Kultur ist nicht die Ursache der Verhältnisse – sie ist ihr Schatten.“

Oder anders gesagt: Kultur entsteht nicht durch Planung, sondern durch gelebte Muster. Und genau hier entfalten Tabus ihre stille Macht. Sie strukturieren die Hinterbühne – häufig so stark, dass sie jede Veränderung auf der Vorderbühne unterlaufen.

Der Sinn und Unsinn von Tabus

Nicht jedes Tabu ist per se schlecht. In dynamischen, komplexen Umfeldern sorgen unausgesprochene Regeln oft für Stabilität. Sie können:

  • Beziehungen schützen – Schweigen entschärft mitunter Spannungen.

  • Rollen klären – Wer darf was sagen – und wer lieber nicht?

  • Effizienz sichern – Nicht jeder Konflikt muss ausgetragen werden.

  • Gemeinschaft stiften – Ein kollektives „So macht man das hier“ stärkt Zugehörigkeit.

Beispiel:
In einem Familienunternehmen ist es ein unausgesprochenes Tabu, die Entscheidungen der Gründerin offen zu kritisieren. Auch wenn nicht alles optimal läuft, sorgt dieses Tabu für Ruhe im Betrieb – zumindest solange kein größerer Konflikt eskaliert.

Wann Tabus dysfunktional werden

Tabus werden problematisch, wenn sie Offenheit verhindern, Lernen blockieren oder Veränderung sabotieren. Oft geschieht das schleichend:

  • Fehler werden vertuscht – statt als Lernchancen genutzt.

  • Machtspiele bleiben unausgesprochen – und untergraben Entscheidungen.

  • Angst ersetzt Vertrauen – niemand wagt es, Widersprüche anzusprechen.

  • Kultur wird zur Fassade – während die eigentlichen Dynamiken verborgen bleiben.

Beispiel:
Ein Unternehmen propagiert Offenheit – doch wer Kritik äußert, wird übergangen. Das Tabu lautet unausgesprochen: Sag lieber nichts. Vorderbühne und Hinterbühne widersprechen sich – und lähmen gemeinsam jede echte Bewegung.

Warum Tabus gefährlich sein können

Tabus wirken wie geheime Absprachen – sie nützen denen, die sie kennen, und verwirren alle anderen. Sie binden Energie in Vermeidung, erzeugen Misstrauen und hemmen Zusammenarbeit. Wer wagt es schon, im Meeting zu fragen: „Warum handeln wir eigentlich wie bisher?“ – das könnte ja bereits das Tabu verletzen.

Auch politisches Verhalten ist oft tabuisiert: Silo-Denken, Ego-Spiele, verdeckte Karrierestrategien. Diese Phänomene existieren – werden aber selten offen thematisiert. Dabei entscheiden sie häufig über Erfolg oder Misserfolg.

Und schließlich entstehen Tabuzonen dort, wo paradoxe Anforderungen aufeinandertreffen:
Mut wird gefordert – aber Scheitern bestraft. Transparenz wird verlangt – aber Konflikte gelten als unprofessionell.
Die Folge: Eine stille Kultur der Vermeidung, die Transformation blockiert.

Beispiel-Tabu: Die Fehlerkultur

Ein typisches Tabu ist das Thema Fehler. Kaum jemand wagt es, einen Fehler einzugestehen – aus Angst vor Gesichtsverlust oder Sanktionen.

In vielen Firmen hört man dazu oft: „Aber bitte unter uns…“

Solange Teams glauben, Fehler zuzugeben könnte sie den Job kosten, stellt sich lieber jeder tot, statt ehrlich zu sein. Das Ergebnis: Lernen aus Fehlern wird blockiert – und Innovation stirbt.

Denn wer aus Angst vor dem Scheitern stagniert, liefert nur „mehr desselben“ statt wirklich Neues.
Erst wenn der Elefant Fehlerminimierung im Raum steht und offen benannt wird, kann man über echtes Lernen sprechen.

Fünf Wege, wie Führung Tabus besprechbar macht

1. Tabus indirekt ansprechen

Statt mit dem Holzhammer zu starten („Hier redet keiner offen!“), nutze Hypothesen:
„Manchmal frage ich mich, ob wir bestimmte Spannungen nur zwischen den Zeilen austragen…“
So entsteht ein Raum für leises, aber echtes Hinsehen.

2. Kreative Formate nutzen

Pre-Mortem-Workshops, verkettete Gespräche oder Rollenspiele helfen, Muster zu spiegeln – ohne sofort Schuldfragen aufzurufen. Das Tabu wird zur beobachtbaren Skulptur, nicht zur moralischen Falle.

3. Offenen Dialog ermöglichen

Ein Satz wie „Mir ist aufgefallen, dass wir über X nicht sprechen – vielleicht steckt da Unsicherheit dahinter?“ kann mehr bewirken als jede Maßnahme.
Luhmanns Systemtheorie zeigt: Das Aussprechen verändert das System.

4. Fehlerkultur vorleben

Integriere „Lessons Learned“, Fehler-Retros oder „Fehlermut-Tage“ in den Alltag. Vor allem: Führungskräfte dürfen (und müssen) selbst zeigen, dass Fehler kein Karrierehindernis sind – sondern ein Lernmotor.

5. Kultur regelmäßig reflektieren

Schaffe Raum für regelmäßige Kultur-Check-ins. Nicht nur: Was tun wir? – sondern: Wie erleben wir es?
Metaphern, externe Spiegelung oder Moderation helfen, Unsichtbares sichtbar zu machen.

„Über ungeschriebene Normen zu sprechen, kann sie bereits verändern.“ (Poppenborg)

‍Ja, aber… Wo anfangen?

Tabus entstehen dort, wo sich niemand traut, etwas auszusprechen – aus Sorge, das Spiel zu stören.
Und genau deshalb ist es so schwer, den ersten Schritt zu machen.

Aber genau hier beginnt deine Rolle als mutige Führungskraft – und meine als deine Komplizin.

Was wir gemeinsam entdecken können – ohne gleich mit dem Elefanten in den Raum zu platzen:

  • Diagnosehilfe: Wo liegen kulturelle blinde Flecken?

  • Sprachhilfe: Wie lassen sich Tabus so ansprechen, dass andere sich öffnen – statt in Abwehr zu gehen?

  • Dialogformate: Tools und Interventionen, um Schweigen produktiv zu unterbrechen.

  • Reflektionsimpulse: Für deine eigene Rolle im System.

  • Mutverstärker: Manchmal reicht ein Satz – gemeinsam finden wir ihn.

Fazit: Schweigen ist keine Lösung – es ist der Anfang eines Problems

   Tabus sind kein Zeichen von Schwäche. Sie sind Teil jeder Kultur.
   Die Frage ist nicht: Haben wir welche?, sondern: Was tun wir mit ihnen?

   Denn wer den Mut hat, hinter die Bühne zu schauen, erkennt:
   Veränderung beginnt nicht mit der nächsten Maßnahme, sondern mit einem Satz wie

  „Ich habe das Gefühl, dass wir über X nicht reden – und ich frage mich, warum.“

   Das ist Führung.
   Das ist Kulturarbeit.
   Und oft ist das der erste Schritt zu echter Veränderung.

  Ich bin gern dabei.

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