Zielvereinbarungen entmündigen Mitarbeiter*innen
Herbstzeit – Mitarbeitergesprächezeit – Zielvereinbarungen… und schon verzieht sich mein Gesicht als ich mit den Augen rolle. Als Führungskraft hatte ich immer zwiegespaltene Gefühle – klar es ist gut mit dem Team zu sprechen, aber das tue ich ja eh. Wir hatten immer direkten Austausch und kurze Wege. Mitarbeitergespräch bedeutete das passend machen von Bewertungen in ein Schema, meistens noch verbunden mit Boni, deren Sinn irgendwie für niemanden wirklich ersichtlich war. Die Ziele waren meist eh schon längst erreicht oder obsolet. Es wurde eben gemacht, aber richtig zufrieden sind aus dem Gespräch weder ich noch meine Mitarbeiter*innen gegangen.
Ein Ziel – was ist das überhaupt
Fangen wir von vorn an. Was ist denn überhaupt ein Ziel?
Ein Ziel ist die Hoffnung auf zukünftige Zustände, die durch eigene Aktivitäten erreicht werden sollen. Ziele sind nur sinnvoll, wenn sie eine gewisse Zeit ohne Schaden gültig bleiben können. Sie sind Verbrauchsmaterial und verschwinden wenn sie erreicht sind. (G. Wohland, 2012)
Und Zielvereinbarungen?
Individuelle Zielvereinbarung haben eine lange Tradition und sie gehören weiterhin zur modernen Arbeitswelt. Eingeführt wurden sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts durch Frederick Taylor, der einen wissenschaftlichen Betriebsführungsansatz mit leistungsabhängigen Vergütungsmodellen zu Grunde legte. Basis für seinen großen Erfolg war die nahezu ausschließliche Anwendung auf Routinearbeit – jeder Arbeitsschritt war bis ins Detail beschrieben, ohne die Notwendigkeit von Kreativität. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin war mit seiner Leistung objektiv vergleichbar – also ideale Bedingungen für individuelle Leistungsanreize.
Zielvereinbarung heute
Zielvereinbarungen gehören immer noch zur modernen Arbeitswelt. Denn in der idealen Welt fallen die Problemlösung und die Zielerreichung zusammen.
In der Realität bewegt sich die Welt jedoch schneller als das Ziel und so wird aus der gut gemeinten Steuerungsidee eine Illusion für das Management.
Statt Motivation wird oft das Gegenteil erreicht: egoistische Entscheidungen, Verantwortungslosigkeit und Enttäuschungen bei den Kunden.
Selbst wenn auch heute noch Routinewertschöpfung einen großen Anteil hat, so sind doch die wenigsten Mitarbeiter*innen ausschließlich mit Routinetätigkeiten beschäftigt. Leistungen werden häufig mit anderen gemeinsam erbracht und selten sind auch sog. Einzelkämpfer frei von Abhängigkeiten.
Die Arbeitswelt dreht sich schneller, Überraschungen tauchen auf und sind nicht mit Routine sondern mit Ideen und Kreativität zu lösen.
Spätestens hier ist das Ziel überholt und der Mitarbeiter steht vor dem Dilemma, schadet er sich selbst in dem er sein Ziel ignoriert oder schadet er dem Unternehmen, indem er an sich selbst und seine Zielerreichung denkt?
Statt mündig, informiert und kreativ zum besten des Unternehmens tätig zu werden, wird der Mensch eingeschränkt, ja entmündigt – die Illusion von Steuerung in einem komplexen Umfeld führt letztendlich zur „Verblödung der Organisation“ (G. Wohland, 2012).
Was spricht noch gegen Zielvereinbarungen im komplexen Umfeld?
Wie geht es denn anders?
Denkmodell Systemtheorie
Es geht hier um die sog. Neue Systemtheorie von Niklas Luhmann. Sie stellt ein Erklärungsmodell für soziale Systeme zur Verfügung und lässt damit auch einen veränderten Blick auf Unternehmen zu.
In diesem Sinne wird die Organisation als geschlossenes System gesehen, ein System, das ein Eigenleben führt. Das bedeutet, dass sich die Vorgänge ständig selbst generieren, nicht von außen bestimmt und das ein Vorgang stets dem anderen logisch folgt. Quasi eine Kommunikation.
Das System Organisation oder Unternehmen hat nur einen Zweck, die eigene Erhaltung. Weitere Details erspare ich Euch – das ist schon ein neuer Blogartikel.
Gucken wir nun auf die Umwelt von Organisationen. Ein Unternehmen ist eine Organisation im System Wirtschaft und die Umgebung ist der Markt. Nun lässt sich unschwer feststellen, dass diese Umgebung im Vergleich zu Taylors Zeiten wesentlich schneller, dynamischer und weniger vorhersagbar geworden ist. Überraschungen tauchen immer wieder auf und wenn die vereinbarten Ziele nicht schnell genug geprüft und korrigiert werden, zeigen diese schnell in die falsche Richtung. Wir enden dann wieder … s.o.
Also was tun?
Lass sie weg. Lass die Zielvereinbarung doch „einfach“ mal weg.
Prüfe,
Warum ist sie da? Welchen Sinn erfüllt sie? Was wäre anders, wenn sie nicht mehr da ist? Was nehmen wir wenn Ziele nicht sinnvoll sind?
Das heißt natürlich nicht alles über Bord zu schmeißen, sondern mal mit Abstand und ehrlich diese Fragen zu beantworten. Es gibt viele Möglichkeiten solche Veränderungen auszuprobieren – in einem Bereich, in einem Zeitraum – es braucht Mut und davon kann ich dir hier etwas abgeben.
Ein paar wunderbare Beispiele von verschiedenen Unternehmen findest du hier, bei den Kollegen von intrinsify, die mich für das Denkmodell nach Luhmann begeistert haben:
Z.B.: kleinteilige Ziele zu Gunsten des Blicks auf das große Ganze abzuschaffen und gemeinsam am System zu arbeiten. Oder Umstellung von Leistungsbeurteilung und Lohnerhöhungen auf Gewinnbeteiligung und qualitative Gespräche. Oder Abkehr von der individuellen Bonusvereinbarung zu einer gemeinsamen Zielerreichung und eines gleichverteilten Bonus mit einem transparenten Vergütungssystem.
Fazit
Zielvereinbarung – ja oder nein? Es ist wie so oft, es kommt darauf und ein Blick durch die Brille der Systemtheorie kann da durchaus hilfreich sein.
Quellen: intrinsify.de; dynamikrobust.com; G. Wohland, Denkwerkzeuge der Höchstleister, 2012